Lesetipp von Eva Gutensohn
Sophie Hunger - Walzer für Niemand
Walzer für Niemand ist ein Künstlerinnen- und Coming-of-Age-Roman, eine Geschichte von Selbstfindung und Behauptung und einer weit mehr als tiefen Freundschaft. Oder doch eher die Erfahrung einer existenziellen Einsamkeit? Die Erzählerin ist genau wie die Autorin Tochter von Militärattachés, beständige Ortswechsel bestimmen ihr Aufwachsen. Die Konstanten in diesem Dasein bilden ihr Kindheitsfreund mit dem sprechenden Namen „Niemand" und die Musik, die die beiden schon mit vier Jahren für sich entdecken, und die sie verbindet. Aber Sophie Hunger erzählt diese Initiation nicht aus einer vermeintlich realistischen Kinderperspektive, sondern als verdichtete und zugleich anmutige Reflexion über das Wahrnehmen und das Erzählen der Welt.
Lesetipps aus dem Team der Sendung "Lit my Fire" bei RDL

Oliver Lovrenski
bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann
Ivor, Marco, Arjan und Jonas finden einander, während sie irgendwo zwischen Jugendträumen, Schulabbrüchen, Dealerkarrieren und schwierigen Familienverhältnissen in Oslo aufwachsen. Mit dabei sind mindestens drei ...
Buchempfehlung von Helma Haselberger
Tezer Özlü - Such nach den Spuren eines Selbstmordes
Tezer Özlüs Suche nach den Spuren eines Selbstmordes ist ein literarisches Juwel, das 2024 endlich auf Deutsch erschienen ist – 40 Jahre nach seiner Entstehung in Berlin. Die türkische Autorin, die vor dem Militärputsch nach Deutschland floh, verwebt zwei Reisen meisterhaft: eine äußere zu den Orten ihrer verehrten Schriftsteller wie Cesare Pavese, eine innere in die Tiefen ihrer Seele.
Mit unerschrockener Offenheit sprengt Özlü alle Konventionen dessen, was eine Frau ihrer Zeit schreiben durfte. Ihre melancholische Prosa durchzieht ein allgegenwärtiger Schmerz – der ihre, der ihrer Gefährten, der von Pavese selbst. Trotz zahlreicher Begegnungen bleibt die existenzielle Einsamkeit bestehen, die sie immer wieder beim Schreiben überfällt.


Eloghosa Osunde - Vagabonds!
Lagos ist eine Stadt für alle, doch Gnade kennt sie keine. Unter Èkó, dem Stadtgeist Lagos, herrscht kontrolliertes Chaos. Èkós Helfer*innen überwachen jegliches Tun der Bewohner*innen. Sie hören und sehen alles, und in Èkós Namen vergeben sie Belohnungen und Strafen.
Tatafo, untergebener Geist Èkós, gewährt den Lesenden Einblick in das Leben verschiedener, in Lagos wohnender Menschen; die, die in den Schatten leben, Außenseiter, queere Menschen und Sexarbeiter*innen, kurz die, die nicht existieren sollen. Doch in Lagos ist nichts verboten, wenn es hinter geschlossener Tür passiert und du die nötige Macht und das Geld besitzt.
Lio Fritsch, Rosa Hilfe Freiburg e.V.

Mia Gatow
Rausch und Klarheit
Der Alkohol, meine Familie, die Gesellschaft und ich
In ihrem autobiografischen Buch beschreibt Mia Gatow ihre (sucht-)belastete Herkunft, ihre Erfahrungen im Berliner Nachtleben, und wie Alkohol schleichend Teil ihres Lebens wurde. Dabei beleuchtet sie auch ...
Lesetipp von Jonas Großmann
Sebastian Haffner - Abschied
Schon der Titel des Romans nimmt vorweg, auf was hier alles hinauslaufen wird: Es wird eine Erzählung sein, die sich ihrem eigenen Ende bewusst ist. Der 1932 verfasste und erst in diesem Jahr veröffentlichte Roman ist die Liebesgeschichte zwischen Raimund und Teddy. Das Paar verbringt einen letzten Tag in Paris miteinander, bevor er nach Deutschland zurückfahren wird. Hier werden Diskussionen darüber geführt, ob indischer oder chinesischer Tee besser schmeckt oder wie schlimm es ist, wenn einem im Suff die Hosen gestohlen werden. Hier finden die Leichtigkeit und die Schwere parallel statt. Wie gerne man sich in der Freundesgruppe des Paares und ihren Gesprächen beim letzten gemeinsamen Essen, dem Besuch des Louvre und des Eiffelturms verlieren möchte – all das, was eigentlich ewig weitergehen sollte, wird auf jeder Seite von der voranschreitenden Zeit bedroht.
Buchtipps von Joke Colmsee
Jonas Wegerer empfiehlt
Martina Clavedetscher - Die Schrecken der anderen
Alfred Hitchcock hat den Begriff „McGuffin" geprägt. Dieser bezeichnet ein beliebiges Objekt, das die Handlung eines Films ins Gleis setzt oder vorantreibt, ohne dabei selbst Teil der Handlung zu sein. Der „McGuffin" in Martina Clavadetschers Roman Der Schrecken der anderen heißt genau so, McGuffin, und ist ein toter Schotte, dessen Leiche von einem Jungen beim Schlittschuhfahren unter dem Eis eines kleinen zugefrorenen Sees gefunden wird. Und kaum ist McGuffin an der Oberfläche, nutzt Clavadetscher verschiedene literarische Formen und Motive, um eine Geschichte zu erzählen, die zwar in der ländlichen Gegend um das fiktive Ödwilerfeld in der Schweiz spielt, deren Aktualität aber in nahezu jedes andere europäische Land übertragen werden könnte. Der Tod des Schotten, an dessen Aufklärung sich der scheue, etwas einsame Schibig und eine namenlose, etwas geheimnisvolle Alte machen, führt schnell auf die Spur eines Topfes voll von altem Nazigeld, auf den ein rechtskonservativer Herrenklub vor Ort nur allzu gern zugreifen möchte. Zudem verübt eine Gruppe Unbekannter in weißen Kapuzen einen Anschlag auf ein geplantes Mahnmal, ein „Jungenstreich" wie man im Dorf schnell weiß und wie die Taten der Neuen Rechten ja leider überall allzu häufig bezeichnet werden.

Jérôme Ferrari
Nord Sentinelle
Erzählungen vom Einheimischen und vom Reisenden
„Hatten einsichtige Menschen bislang im Sommer den heißen und gesundheitsschädlichen Strand gemieden, so drängten sich nun wider Erwarten und getrieben von einem kollektiven Wahn an den Stränden immer dichter ...

Jamil Jan Kochai
Die Heimsuchung des Hadschi Hotak
Erzählungen
Ein afghanischer Teenager, der beim Videospielen in seinem kalifornischen Kinderzimmer versucht, den eigenen Vater in den virtuellen Welten vor der sehr realen Folter zu bewahren. Eine junge Frau in Kabul, die in ...
Lesetipp von Lena Wich
Amira Ben Saoud - Schweben
Es ist eine verwunderliche, nicht gleich greifbare Geschichte. Eine Geschichte, die mit einem Mord beginnt, in einer Welt, in der es keine Gewalt geben darf. Eine Geschichte, die erzählt, dass der Klimawandel schon vorbei ist, die sich in langsamen Schritten in die Richtung der Auflösung der Existenz ihrer Bewohner*innen bewegt. Eine Geschichte, die in einer abgeschotteten, individualisierten Welt spielt mit einer Hauptperson, deren Sein sich immer wieder bis zur Unkenntlichkeit verändert.
Im Mittelpunkt steht eine Frau, die sich ihr Gewerbe aus der Liebe der Menschen zu ihren destruktiven Beziehungen gewoben hat. Sie verdient ihr Geld damit, andere Frauen zu imitieren. Sie verändert ihr Aussehen, studiert Bewegungen, Dynamiken, Reaktionen. Alles, um den Angehörigen, ihren Kund*innen, das Gefühl zu geben, die nachgestellte Beziehung wäre nicht vorbei.
Buchtipp von Jana Kling
Barbi Marković - Stehlen, Simpfen, Spielen
Ein Freund, so lässt uns Barbi Marković in ihrem Text wissen, fragt sie während ihrer Arbeit daran, ob die Universität wisse, dass sie statt einer Poetikvorlesung an einem Stand-up Programm schreibe. Dieses Buch, das auf einer in Salzburg gehaltenen Poetikvorlesung basiert, passt scheinbar wirklich besser auf ein Badetuch im Freibad oder als vorgetragener Text in einen kleinen Comedy Club als in einen Hörsaal.
Aber das Geniale an Barbi Markovićs Texten ist, dass tatsächlich alle Orte der richtige Ort sind und Leser*innen selbst in der Verantwortung stehen und die Freiheit haben, sich das Erzählte anzueignen und tiefer einzusteigen in die Welt, die sich öffnet bei der Lektüre.
Schnelle Lacher sichert sich die Autorin durch drastische Schilderungen, kurze Sätze und einen fast naiv anmutenden und unverstellten Zugang zur Welt. Aber alles hat einen doppelten Boden, eine zweite Sprache und einen Subtext, den es sich zu erkunden lohnt. Diese Erkundung übernimmt Barbi Marković in diesem Buch, und es lohnt sich, ihr zu folgen. Wir bekommen einen Einblick in die Genese ihres Werks, schauen durch ein Guckloch auf die Arbeitsbedingungen einer Autorin und erfahren viel über autobiographischen Kontext.

Lesetipp von Renate Zimmer
Jessica Lind - Kleine Monster
Der Roman von Jessica Lind kreist um ein Phantom. Ein bis zum Ende unbekannt bleibender Vorfall zwischen den Grundschulkindern Luca und Alena in einem leeren Klassenzimmer setzt ein Kopfkino in Gang, das Assoziationen hervorruft, die durch einschlägige Medienberichte beim Leser Trigger-bereit existieren. Was sich tatsächlich zwischen den Kindern abgespielt hat, versuchen Pia und Jakob, Lucas Eltern, vergeblich herauszufinden. Dadurch kommt ihre Ehe an die Belastungsgrenze. Die anderen Mütter meiden Pia, sie wird aus den WhatsApp-Gruppen entfernt. Der schweigende Luca wird vorübergehend
aus der Schule genommen und zu Pias Eltern aufs Land gebracht. Hier holt Pia ein Unglücksfall aus ihrer Kindheit ein, der ihr Leben bis in die Gegenwart mit ungeklärten Fragen belastet. Hat Pia als ältere Schwester eine Schuld auf sich geladen, und was hat Luca getan? Monsterfragen der Ich-Erzählerin Pia.
