Jérôme Ferrari
Nord Sentinelle
Erzählungen vom Einheimischen und vom Reisenden
„Hatten einsichtige Menschen bislang im Sommer den heißen und gesundheitsschädlichen Strand gemieden, so drängten sich nun wider Erwarten und getrieben von einem kollektiven Wahn an den Stränden immer dichter werdende Massen verzückter Schwachköpfe, die herkamen, um unter der gleißenden Sonne, eingeschmiert mit Monoï und Melkfett, ihre zukünftigen Melanome zu züchten, sich von unersättlichen Moskitos und Wespen stechen zu lassen, in der lauwarmen Brühe des Mittelmeers untereinander ihre Miasmen und Mykosen zu tauschen, und obendrein auch noch willens waren, dafür zu zahlen."
Es ist gewiss ein spöttischer Erzähler, der in Jérôme Ferraris neuem Roman von der Ankunft des Massentourismus auf Korsika in den 1980er Jahren berichtet – und damit die eigentliche Handlung einleitet, die, in der Gegenwart angesiedelt, einen tödlichen Messerangriff eines Einheimischen auf einen Touristen im Zentrum hat. Ein Kriminalroman ist das aber keineswegs. Grundmotiv ist vielmehr die, wie der Erzähler sie nennt, „entsetzliche Dialektik" von Einheimischen und Reisenden.
Ferrari gelingt es ausgezeichnet, dieses abstrakt anmutende Muster auf die Ebene einzelner Personen zurück zu binden. Dabei nutzt er neben einer klugen Komposition vor allem seinen Erzähler. Dieser, nicht unbedingt sympathisch und mit Sicherheit nicht zuverlässig, kennt den Täter seit seiner Jugend, hatte selbst die Insel jedoch für viele Jahre verlassen und damit eine gewisse Distanz aufgebaut. Schonungslos seziert er das Verhalten der Touristen und der Einheimischen, die zynisch die Klischees vom typischen Korsen reproduzieren.
Letztlich ist es der tragikomische Ansatz des Romans, der hilft, die allgegenwärtige Ambivalenz des Tourismus auszuhalten. Die einzige Alternative gibt der Titel vor: Die Nord Sentinelle ist eine kleine Insel im Indischen Ozean dessen Bewohner in Isolation leben und nicht davor zurückschrecken, unerwünschte Gäste zu töten. Denn nur auf diese Weise, weiß der Erzähler früh, wäre die „grauenhafte und endlose Litanei an Massakern, Epidemien, Unterjochungen und Verstümmelungen ebenso erspart geblieben, wie ein paar andere, weniger gravierende Niederträchtigkeiten, zu denen der koloniale Singsang gezählt werden muss, die evangelischen Missionen und selbstverständlich auch der intensive Tourismus."
Jonas Wegerer

Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
Secession , gebunden , 180 Seiten
25.- €
978-3-96639-117-7
24.02.2025
Nord Sentinelle
Erzählungen vom Einheimischen und vom Reisenden
„Hatten einsichtige Menschen bislang im Sommer den heißen und gesundheitsschädlichen Strand gemieden, so drängten sich nun wider Erwarten und getrieben von einem kollektiven Wahn an den Stränden immer dichter werdende Massen verzückter Schwachköpfe, die herkamen, um unter der gleißenden Sonne, eingeschmiert mit Monoï und Melkfett, ihre zukünftigen Melanome zu züchten, sich von unersättlichen Moskitos und Wespen stechen zu lassen, in der lauwarmen Brühe des Mittelmeers untereinander ihre Miasmen und Mykosen zu tauschen, und obendrein auch noch willens waren, dafür zu zahlen."
Es ist gewiss ein spöttischer Erzähler, der in Jérôme Ferraris neuem Roman von der Ankunft des Massentourismus auf Korsika in den 1980er Jahren berichtet – und damit die eigentliche Handlung einleitet, die, in der Gegenwart angesiedelt, einen tödlichen Messerangriff eines Einheimischen auf einen Touristen im Zentrum hat. Ein Kriminalroman ist das aber keineswegs. Grundmotiv ist vielmehr die, wie der Erzähler sie nennt, „entsetzliche Dialektik" von Einheimischen und Reisenden.
Ferrari gelingt es ausgezeichnet, dieses abstrakt anmutende Muster auf die Ebene einzelner Personen zurück zu binden. Dabei nutzt er neben einer klugen Komposition vor allem seinen Erzähler. Dieser, nicht unbedingt sympathisch und mit Sicherheit nicht zuverlässig, kennt den Täter seit seiner Jugend, hatte selbst die Insel jedoch für viele Jahre verlassen und damit eine gewisse Distanz aufgebaut. Schonungslos seziert er das Verhalten der Touristen und der Einheimischen, die zynisch die Klischees vom typischen Korsen reproduzieren.
Letztlich ist es der tragikomische Ansatz des Romans, der hilft, die allgegenwärtige Ambivalenz des Tourismus auszuhalten. Die einzige Alternative gibt der Titel vor: Die Nord Sentinelle ist eine kleine Insel im Indischen Ozean dessen Bewohner in Isolation leben und nicht davor zurückschrecken, unerwünschte Gäste zu töten. Denn nur auf diese Weise, weiß der Erzähler früh, wäre die „grauenhafte und endlose Litanei an Massakern, Epidemien, Unterjochungen und Verstümmelungen ebenso erspart geblieben, wie ein paar andere, weniger gravierende Niederträchtigkeiten, zu denen der koloniale Singsang gezählt werden muss, die evangelischen Missionen und selbstverständlich auch der intensive Tourismus."
Jonas Wegerer