Lesetipp von Jess Jochimsen
Patrick Holzapfel: Hermelin auf Bänken
Nach der Lektüre dieses Buches wollte ich nur eins: sofort nach Wien fahren, um dort die nächsten Wochen auf Parkbänken zu sitzen, die Leute zu beobachten und vor mich hinzudenken. Genau das nämlich macht der namenlose Held in Patrick Holzapfels grandiosem Erstling. »Ich frage mich, warum ich sonst so wenig auf Bänken sitze. So in den Tag hinein zu sitzen ... das könnte etwas für mich sein.«
Lesetipp von Sotirios Kimon Mouzakis
Carolina Pihelgas: Schnittlinie
Als sie gerade erst volljährig ist, trifft Liine den 15 Jahre älteren Tarmo und schlittert irgendwie in die Beziehung mit ihm hinein. Es sei ihre jugendliche Verletzbarkeit, die sie für ihn unwiderstehlich gemacht habe, wird Tarmo später im Text zitiert. Denn die alles andere als leichte Verbindung zu ihrer manipulativen Mutter hat die junge Frau so sehr in ihrem Selbstbild verunsichert, dass sie 14 lange Jahre in der toxischen Beziehung mit Tarmo bleibt. Bis Liine eines Tages entscheidet, dass sie genug hat, Tarmo verlässt und den Sommer im Ferienhaus ihrer Familie in der estnischen Natur verbringt. Hier beginnt der Roman.
Lesetipp von Martin Bruch
Annette Pehnt: Einen Vulkan besteigen
„Weiße Landschaft", „Pfirsiche", „Pfeffer und Ewigkeit". So lauten drei von 35 Titeln der „minimalen Geschichten" von Annette Pehnt. In einer Nachbemerkung legt die Freiburger Autorin den Glutkern ihres neuen Buches offen, die Frage: Was entsteht, wenn man im Schreiben alles Überflüssige weglässt? Seit ihren ersten Romanen Ich muss los und Insel 34 schreibt Annette Pehnt unbeirrbar auf das Ungewisse zu, die Ränder, den Kitt, die Inseln, das Entlegene.
Einen Vulkan besteigen folgt dieser Bewegung in die Höhenlagen. Der Weg wird eng, der Horizont weit.
Buchtipps von Ilaria Maccagno
Buchtipp von Dominik Bloedner
Robert Prosser: Das geplünderte Nest
Robert Prosser, ein ziemlich spannender österreichischer Autor und Performancekünstler, unternimmt in Das geplünderte Nest eine ziemlich weite literarische Reise: Es geht von der Subkultur im heutigen Libanon hin zur Nazizeit in einem Tiroler Bergdorf. Da sind zum einen der Graffiti-Künstler Rami, der die Ruinen von Beirut besprüht und all die anderen, die in den Trümmern das Leben feiern, zum anderen ist da der einarmige, kriegsversehrte Maler Lenz, der sich 1944 mit seiner Gefährtin in einem bescheidenen Haus in den Bergen einquartiert. Hier wie dort herrschen Chaos, Unordnung, Gewalt – und die Kunst sucht und findet ihre Antworten.
Irene Solà
Ich gab dir Augen, und du blicktest in die Finsternis
Alle Frauen, die in dem abgelegenen Bauernhaus in den Pyrenäen jemals geboren wurden oder gestorben sind, versammeln sich am Todestag der uralten Bernadeta zu einem Fest. Wölfe heulen ums Haus, der Teufel ist nicht ...
Lesetipp von Joke Colmsee

Clara Heinrich: Pusztagold
Als Clara Heinrich ihre Masterarbeit der Politikwissenschaft über The Politics of Seed Saving schreibt und dabei immer wieder mehr oder weniger genüsslich in neue „rabbit holes“ fällt, kriegt sie mehrfach zu hören, ihre Ausführungen seien zu groß, zu abstrakt, zu experimentell, vieles nicht relevant für eine wissenschaftliche Arbeit. Bestimmt ist die Arbeit am Ende trotzdem gut geworden.
Ganz sicher aber ist, dass der Text, den die junge Autorin und Gärtnerin parallel und danach geschrieben und nun mit dem Titel Pusztagold herausgegeben hat, absolut fantastisch ist. Hier nimmt sie sich und schenkt uns als Lesenden alle Freiheiten.
Anna Maschik: Wenn du es heimlich machen willst, musst du die Schafe töten
Die Geschichte, die durch die Erzählerin Alma vor uns entfaltet wird, beginnt mit der Beschreibung, wie ihre Urgroßmutter Henrike ein Schaf schlachtet, und endet mit dem Bild von Almas Mutter Miriam, die bis zu den Knien in der Anzuchterde des Gewächshauses stehend, sich zu einem blühenden Zitronenbaum wandelt. An dieser, wie auch an anderen Stellen verweben sich Magie und symbolische Motive zu starken Bildern, die an den magischen Realismus lateinamerikanischer Autor*innen erinnern. Zwischen Henrike, die in den ersten Tagen des neuen Jahrhunderts in einem Dorf an der Nordsee geboren wurde, und Alma, die in der Stadt in Österreich lebt, liegen vier Generationen.
Erinnerungsspuren aus eigenen Erlebnissen und aus erzählten Geschichten, aber auch von Sprachlosigkeit und Nicht-Gesagtem in allen Generationen der Familie, begleiten Alma durch ihre Kindheit und Jugend, und sie versucht, daraus ein schlüssiges Bild für sich zu entwickeln.
Lesetipps aus dem Literaturhaus Freiburg
Jonas Wegerer empfiehlt

Gustavo Faverón Patriau: Unten leben
Es beginnt mit einem Rätsel. Schlägt man das schwere, aber gut in der Hand liegende Buch Unten leben von Gustavo Faverón Patriau auf, stößt man zunächst auf zwei nebeneinander abgedruckte Lexikoneinträge über einen gewissen George Walker Bennett. Im ersten Eintrag, er ist der „Encyclopedia of American Underground Filmmakers“ entnommen, wird Bennett als US-amerikanischer Filmemacher vorgestellt, dessen Spuren sich nach einer Reise durch Paraguay, Argentinien und Chile schließlich in Peru verlieren. Daneben ein weiterer Eintrag, diesmal aus der „Encyclopedia of American Romantic Killers“, der keineswegs deckungsgleich aber vielleicht doch vereinbar mit dem ersten Eintrag, Bennett als mehrfachen Mörder einführt. Wer also ist dieser George Walker Bennett?
Es sind großartige 600 Seiten, die der peruanische Autor Gustavo Faverón Patriau dafür verwendet, diese Frage zu beantworten.
Anne de Marcken
Es währt für immer und dann ist es vorbei
Unsere Heldin befindet sich im Jenseits. Sie lebt im Hotel der Untoten und hat einen Arm zu wenig, dafür aber eine Krähe zu viel. An ihren Namen kann sie sich nicht erinnern, ebenso wenig an ihre Kindheit. Seit der ...
Lesetipp von Thomas Hohner, Grether Nach(t)lese bei Radio Dreyeckland
Joachim Zelter: Staffellauf
Wie viele Bücher bleiben zu Unrecht ungelesen, weil man bei der Lektüre des Klappentextes denkt: Das ist nicht meines. Genau so wäre es mir vermutlich beim Staffellauf gegangen. Joachim Zelters Lesung bei der Grether Nach(t)lese war für mich der Anlass, den Roman zu lesen. Zum Glück, denn das Buch ist von der ersten Seite an ein großes Lesevergnügen. Mit virtuoser Sprache und leichter Hand entfaltet Zelter seine Mutter- Sohn-Geschichte, die in Freiburg Anfang der 60er Jahre beginnt.
Lesetipp von Anna Mashi, Lit My Fire bei Radio Dreyeckland
Benjamin Wood: Der Krabbenfischer
Empfehlen für die Weihnachtszeit möchte ich einen wunderbaren und klugen Roman, der eine große Wärme und Menschlichkeit transportiert. Es ist ein Buch, das man meiner Meinung nach an fast jeden Menschen verschenken kann, und das seinen Leser:innen ganz viel gibt, ohne aber viel zu fordern. Es handelt sich um 224 ruhige, aber tiefgängige, nostalgische, aber positiv in die Zukunft blickende, fast schon meditative Seiten.
Es ist die Geschichte von Thomas, der in den 1960er Jahren ein ruhiges Leben mit seiner Mutter führt, das bereits zu der Zeit, in der der Roman spielt, antiquiert ist. Sein Großvater und Urgroßvater waren Krabbenfischer, Thomas arbeitet ebenfalls in diesem Gewerbe. Jeden Morgen wartet er auf die Ebbe und reitet auf seinem Pferd hinaus, um Krabben zu sammeln.
Doch der zwanzigjährige Thomas möchte mehr. Vielleicht Gitarre spielen und seine Lieder für andere Menschen singen?
Lesetipp von Jana Kling

Yavuz Ekinci: Die, deren Träume zerbrochen sind
Wie verhalte ich mich, wenn mir Ungerechtigkeit begegnet? Kämpfe ich? Welchen Preis bin ich bereit zu zahlen? Wie lebe ich mit den Konsequenzen meiner Entscheidung?
Der Protagonist kehrt in seine türkische Heimatstadt zurück, die er Richtung Deutschland verlassen hatte, nachdem er von der Polizei wegen Terrorverdachts in Untersuchungshaft genommen worden war. In Deutschland, vor Verfolgung sicher, ist er nie angekommen. Mehr als alles andere plagt ihn das schlechte Gewissen. Denn er brachte sich in Sicherheit während andere blieben und kämpften.





