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josfritz Buchhandlung Freiburg
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Lea Ypi

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Aus dem Englischen von Eva Bonné
Suhrkamp Verlag , gebunden , 332 Seiten

 28.- €

 978-3-518-43034-7

 07.03.2022

Frei: Erwachsenwerden am Ende der Geschichte

Ob wir den kompletten Kollaps des kommunistischen Ostblocks in den Jahren nach dem Fall der Berliner Mauer historisch völlig falsch verstanden haben, fragen sich gerade viele im Westen – mit Blick auf den aggressiven russischen Revanchismus und die imperialen Fieberfantasien von Präsident Putin natürlich.

Die Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics, Lea Ypi, hat die damalige „Zeitenwende“ aus einer ganz anderen Perspektive erlebt: Sie wächst – ohne ihr Wissen – als Nachfahrin eines verhassten, von der Revolution abservierten faschistischen Diktators in Albanien auf, das nach dem Siegeszug des Kommunismus einen Sonderweg einschlug: Der brutale Stalinismus, von dem sich die gewaltige Sowjetunion nach dem Tod des schnauzbärtigen Tyrannen vorübergehend verabschiedet hatte, lebt im winzigen Staatssozialismus auf dem Balkan einfach bis in die Wendejahre weiter. Der von der Außenwelt fast völlig isolierte, verarmte Flecken Erde an der Adria grenzt sich in trotzig-heroischer Selbstüberhöhung von den „Imperialisten“ in Washington und Moskau gleichermaßen ab, es herrschen Mangelwirtschaft und eine mörderische Geheimpolizei. Leere Cola-Dosen stellen das allerbegehrteste Statusobjekt dar, das man sich daheim auf das gehäkelte Spitzendeckchen stellen kann. Bis der große Umbruch im Jahr 1991 schließlich auch über Albanien kommt, schützt ihre Familie die elfjährige Lea mit einem elaborierten Geheimcode vor der Erkenntnis, wie gefangen die Menschen in diesem System wirklich sitzen – auch wenn sie sich zwischen den zwei Machtblöcken offiziell als einziges freies Volk auf Erden fühlen sollen.

Als in Tirana Stalins und Enver Hoxhas Statuen vom Sockel stürzen, fällt es Lea wie Schuppen von den Augen: Alles, woran sie als überzeugte kleine Stalinistin geglaubt hat, es war erlogen. Die viel diskutierten „Universitäten“, auf die nahe Verwandte geschickt wurden, um ihr Wissen zu erweitern, waren in Wirklichkeit Gefängnislager. Jetzt sind die Albanerinnen und Albaner wirklich „frei“, so scheint es: Aber die neue Zeit zeigt bald ihre kaltschnäuzige Seite. Skrupellose Geschäftemacher zwingen dem Land neoliberale Reformprogramme auf, die Aussicht auf eine bessere Zukunft zerbröckelt in Arbeitslosigkeit und Massenflucht. Als die völlig überforderte junge Republik im Chaos zu versinken droht, fängt Lea an, sich zu fragen, was das eigentlich sein soll: Freiheit.

In perlender Prosa erzählt die Autorin von ihrem Erwachsenwerden in einer absolut unvergesslichen Sippe, deren Geschichte eng mit der ihrer Heimat verwoben ist. Frei ist ein meisterliches Memoir, nominiert für den Baillie Gifford Prize for Non-Fiction und weitere Preise, eine scharfsinnige Reflexion über die Grenzen des Fortschritts und die Last der Vergangenheit, erzählt mit reichlich Feingefühl und sprödem Witz. Die Lektüre ändert unseren Begriff davon, was eine „Zeitenwende“ bedeuten kann – und wie komplex sie ist, wenn wir ganz genau hinschauen.

René Freudenthal, Carl-Schurz-Haus