Loading...
josfritz Buchhandlung Freiburg
josfritz Buchhandlung Freiburg

Carolina Pihelgas

cover

Aus dem Estnischen von Maximilian Murmann
Weidle Verlag , gebunden , 133 Seiten

 20.- €

 978-3-8353-7598-7

 20.08.2025

Schnittlinie

Als sie gerade erst volljährig ist, trifft Liine den 15 Jahre älteren Tarmo und schlittert irgendwie in die Beziehung mit ihm hinein. Es sei ihre jugendliche Verletzbarkeit, die sie für ihn unwiderstehlich gemacht habe, wird Tarmo später im Text zitiert. Denn die alles andere als leichte Verbindung zu ihrer manipulativen Mutter hat die junge Frau so sehr in ihrem Selbstbild verunsichert, dass sie 14 lange Jahre in der toxischen Beziehung mit Tarmo bleibt. Bis Liine eines Tages entscheidet, dass sie genug hat, Tarmo verlässt und den Sommer im Ferienhaus ihrer Familie in der estnischen Natur verbringt. Hier beginnt der Roman. Dabei wird der psychische Missbrauch, den Liine über die Jahre erfahren hat, rekapituliert und durch verzweifelt aggressive Nachrichten, die Tarmo Liine schreibt, ergänzt. Sexuelle Übergriffe bleiben lediglich angedeutet, lassen aber aufgrund Tarmos Besitzansprüchen gegenüber Liines Körper Schlimmes erahnen.

Diesen Mann hat Liine nun also – zum Glück – hinter sich gelassen und versucht den Sommer über, zurück zu sich selbst zu finden. Als Leser:in folgt man dabei den verschiedenen Reflexions- und Bewältigungsphasen, die Liine durchlebt, und die parallel zur Gartenarbeit auf dem desolaten Anwesen in behutsam poetischer Sprache geschildert werden. Während Liine eine Bestandsaufnahme ihres Lebens, ihrer Beziehungen und ihrer Zukunftsaussichten vornimmt, werden außerdem die Klimakrise sowie die Kriegsübungen auf dem nahegelegenen Übungsplatz in die Erzählung eingewoben, ohne den Text jedoch zu überfrachten oder zu erdrücken.

Obwohl in diesem sehr kurzen Roman die äußere Handlung auf ein Minimum beschränkt bleibt, gelingt es Carolina Pihelgas dennoch, den Befreiungs- und Heilungsprozess einer jungen Frau ohne Pathos oder Selbstmitleid glaubhaft darzustellen. Zwar sind am Ende nicht alle Probleme gelöst, nicht alle Fragen geklärt, die Zukunft ungewiss. Und trotzdem hat Liine sich ihren Selbstwert zumindest ein Stück weit zurückerobert und kann den Blick gestärkt nach vorne richten, so dass auch die Leser:innen dieses Romans das Buch mit einem guten Gefühl abschließen können.

Sotirios Kimon Mouzakis, Skandinavist