Martina Clavadetscher
Die Schrecken der Anderen
Alfred Hitchcock hat den Begriff „McGuffin" geprägt. Dieser bezeichnet ein beliebiges Objekt, das die Handlung eines Films ins Gleis setzt oder vorantreibt, ohne dabei selbst Teil der Handlung zu sein. Der „McGuffin" in Martina Clavadetschers Roman Der Schrecken der anderen heißt genau so, McGuffin, und ist ein toter Schotte, dessen Leiche von einem Jungen beim Schlittschuhfahren unter dem Eis eines kleinen zugefrorenen Sees gefunden wird. Und kaum ist McGuffin an der Oberfläche, nutzt Clavadetscher verschiedene literarische Formen und Motive, um eine Geschichte zu erzählen, die zwar in der ländlichen Gegend um das fiktive Ödwilerfeld in der Schweiz spielt, deren Aktualität aber in nahezu jedes andere europäische Land übertragen werden könnte. Der Tod des Schotten, an dessen Aufklärung sich der scheue, etwas einsame Schibig und eine namenlose, etwas geheimnisvolle Alte machen, führt schnell auf die Spur eines Topfes voll von altem Nazigeld, auf den ein rechtskonservativer Herrenklub vor Ort nur allzu gern zugreifen möchte. Zudem verübt eine Gruppe Unbekannter in weißen Kapuzen einen Anschlag auf ein geplantes Mahnmal, ein „Jungenstreich" wie man im Dorf schnell weiß und wie die Taten der Neuen Rechten ja leider überall allzu häufig bezeichnet werden.
Clavadetscher hat ein Buch über die Situation im heutigen Europa geschrieben, in dessen Mittelpunkt zwei Figurenpaare stehen. Einerseits sind da der Archivar Schibig, der von der Alten aus seiner Lethargie gerissen, sich nun zum Handeln gezwungen sieht. Andererseits der alternde Kern, ein reicher Erbe und auf dem Weg zum Vorsitz im Herrenklub, und seine steinalte Mutter, die ein Geheimnis mit sich trägt. Die treibenden Kräfte des Romans sind die Frauenfiguren, sie werden letztlich in einem Showdown aufeinandertreffen.
Trotz der klaren Erzählung ist es ein reichlich unkonventionelles Buch, das Martina Clavadetscher geschrieben hat. Ein Buch voller Anspielungen und Bilder. Der alte Dorfmythos von einem Drachen in den umliegenden Bergen findet ebenso seinen Platz wie eine Geheimagentin auf einem Motorrad. Es ist auch ein Labyrinth (ein Motiv, das im Buch des Öfteren auftaucht), in dem sich die Leserinnen zwar nicht verirren, aus dem sich jedoch auch nicht entkommen lässt, indem man das Buch einfach zuklappt.
Jonas Wegerer

C.H. Beck Verlag , gebunden , 333 Seiten
25.- €
978-3-406-83698-5
04.07.2025
Die Schrecken der Anderen
Alfred Hitchcock hat den Begriff „McGuffin" geprägt. Dieser bezeichnet ein beliebiges Objekt, das die Handlung eines Films ins Gleis setzt oder vorantreibt, ohne dabei selbst Teil der Handlung zu sein. Der „McGuffin" in Martina Clavadetschers Roman Der Schrecken der anderen heißt genau so, McGuffin, und ist ein toter Schotte, dessen Leiche von einem Jungen beim Schlittschuhfahren unter dem Eis eines kleinen zugefrorenen Sees gefunden wird. Und kaum ist McGuffin an der Oberfläche, nutzt Clavadetscher verschiedene literarische Formen und Motive, um eine Geschichte zu erzählen, die zwar in der ländlichen Gegend um das fiktive Ödwilerfeld in der Schweiz spielt, deren Aktualität aber in nahezu jedes andere europäische Land übertragen werden könnte. Der Tod des Schotten, an dessen Aufklärung sich der scheue, etwas einsame Schibig und eine namenlose, etwas geheimnisvolle Alte machen, führt schnell auf die Spur eines Topfes voll von altem Nazigeld, auf den ein rechtskonservativer Herrenklub vor Ort nur allzu gern zugreifen möchte. Zudem verübt eine Gruppe Unbekannter in weißen Kapuzen einen Anschlag auf ein geplantes Mahnmal, ein „Jungenstreich" wie man im Dorf schnell weiß und wie die Taten der Neuen Rechten ja leider überall allzu häufig bezeichnet werden.
Clavadetscher hat ein Buch über die Situation im heutigen Europa geschrieben, in dessen Mittelpunkt zwei Figurenpaare stehen. Einerseits sind da der Archivar Schibig, der von der Alten aus seiner Lethargie gerissen, sich nun zum Handeln gezwungen sieht. Andererseits der alternde Kern, ein reicher Erbe und auf dem Weg zum Vorsitz im Herrenklub, und seine steinalte Mutter, die ein Geheimnis mit sich trägt. Die treibenden Kräfte des Romans sind die Frauenfiguren, sie werden letztlich in einem Showdown aufeinandertreffen.
Trotz der klaren Erzählung ist es ein reichlich unkonventionelles Buch, das Martina Clavadetscher geschrieben hat. Ein Buch voller Anspielungen und Bilder. Der alte Dorfmythos von einem Drachen in den umliegenden Bergen findet ebenso seinen Platz wie eine Geheimagentin auf einem Motorrad. Es ist auch ein Labyrinth (ein Motiv, das im Buch des Öfteren auftaucht), in dem sich die Leserinnen zwar nicht verirren, aus dem sich jedoch auch nicht entkommen lässt, indem man das Buch einfach zuklappt.
Jonas Wegerer