Louise Erdrich
Jahr der Wunder
Darüber habe ich mich gleich beim Aufschlagen des Buches gewundert: Der englische Originaltitel des Buches von Louise Erdrich lautet The Sentence – und im Deutschen ist das Buch mit Jahr der Wunder betitelt. Verwunderlich, nicht wahr? Sind doch mit diesen beiden Titeln sehr unterschiedliche Assoziationen und Erwartungen verbunden.
Worüber ich mich beim Lesen noch amüsiert und gewundert habe: In diesem Roman geben Buchhändler*innen ihren Stammkund*innen treffende Spitznamen und scheinen sie sehr genau zu kennen. Eine verstorbene Stammkundin lebt sogar als Gespenst oder Geist in ihrer Lieblingsbuchhandlung weiter. (Doch vielleicht ist dies nur bei Buchhandlungen zutreffend, die einen inhaltlichen Schwerpunkt bei den First Nations pflegen, wie im vorliegenden Roman der Fall...).
Das alles klingt nun nach skurril-beschaulichem Wundern beim Lesen, aber dabei bleibt es nicht. Die Protagonistin des Buches, die Buchhändlerin Tookie, wird von Ereignissen überrascht, die in ihr selbst, ihrer Familie und um sie herum passieren. Dasselbe gilt dann für die Leser*in: Sie*er lernt in Tookie eine Person kennen, die für Kopfschütteln und Erstaunen sorgt und zugleich tiefe Empathie wecken kann. Zudem werden andere Gespenster oder Geister wach, die die deutschen Lesenden mitnehmen in die USA während der Corona-Pandemie und in den Mai 2020, als der Afroamerikaner George Floyd durch einen weißen Polizisten ermordet wurde. Angehörige der First Nations haben sich beteiligt an den massiven Protesten der „Black Lives Matter"-Bewegung. Auch Mitglieder von Tookies Familie und Tookie selbst machen sich auf den Weg. Das Lesen eröffnet Einblicke und innere Beteiligung an diesen Ereignissen aus verschiedenen Perspektiven, die für viele vermutlich nicht nur neu und verwunderlich, sondern auch informativ und teils erschreckend sind.
So sind es viele kleine und große Gespenster oder Geister, die beim Lesen wachgerufen werden, und je mehr ich darüber nachdenke, desto besser passt für mich der Titel „Jahr der Wunder". Aber auch „The Sentence", der englischsprachige Titel, spiegelt zentrale Aspekte des Buches treffend wider: Geht es doch in dem Roman um das Lesen und insbesondere um den einen Satz, der Tookies Leben geprägt hat...
Ute Bender, Leserin und Kundin
Aus dem Englischen von Gesine Schröder.
Aufbau Verlag , gebunden , 464 Seiten
26.- €
978-3-351-03980-6
17.05.2023
Jahr der Wunder
Darüber habe ich mich gleich beim Aufschlagen des Buches gewundert: Der englische Originaltitel des Buches von Louise Erdrich lautet The Sentence – und im Deutschen ist das Buch mit Jahr der Wunder betitelt. Verwunderlich, nicht wahr? Sind doch mit diesen beiden Titeln sehr unterschiedliche Assoziationen und Erwartungen verbunden.
Worüber ich mich beim Lesen noch amüsiert und gewundert habe: In diesem Roman geben Buchhändler*innen ihren Stammkund*innen treffende Spitznamen und scheinen sie sehr genau zu kennen. Eine verstorbene Stammkundin lebt sogar als Gespenst oder Geist in ihrer Lieblingsbuchhandlung weiter. (Doch vielleicht ist dies nur bei Buchhandlungen zutreffend, die einen inhaltlichen Schwerpunkt bei den First Nations pflegen, wie im vorliegenden Roman der Fall...).
Das alles klingt nun nach skurril-beschaulichem Wundern beim Lesen, aber dabei bleibt es nicht. Die Protagonistin des Buches, die Buchhändlerin Tookie, wird von Ereignissen überrascht, die in ihr selbst, ihrer Familie und um sie herum passieren. Dasselbe gilt dann für die Leser*in: Sie*er lernt in Tookie eine Person kennen, die für Kopfschütteln und Erstaunen sorgt und zugleich tiefe Empathie wecken kann. Zudem werden andere Gespenster oder Geister wach, die die deutschen Lesenden mitnehmen in die USA während der Corona-Pandemie und in den Mai 2020, als der Afroamerikaner George Floyd durch einen weißen Polizisten ermordet wurde. Angehörige der First Nations haben sich beteiligt an den massiven Protesten der „Black Lives Matter"-Bewegung. Auch Mitglieder von Tookies Familie und Tookie selbst machen sich auf den Weg. Das Lesen eröffnet Einblicke und innere Beteiligung an diesen Ereignissen aus verschiedenen Perspektiven, die für viele vermutlich nicht nur neu und verwunderlich, sondern auch informativ und teils erschreckend sind.
So sind es viele kleine und große Gespenster oder Geister, die beim Lesen wachgerufen werden, und je mehr ich darüber nachdenke, desto besser passt für mich der Titel „Jahr der Wunder". Aber auch „The Sentence", der englischsprachige Titel, spiegelt zentrale Aspekte des Buches treffend wider: Geht es doch in dem Roman um das Lesen und insbesondere um den einen Satz, der Tookies Leben geprägt hat...
Ute Bender, Leserin und Kundin