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josfritz Buchhandlung Freiburg
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Philipp Staab

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Suhrkamp Verlag , Taschenbuch , 240 Seiten

 18.- €

 978-3-518-12779-7

 10.10.2022

Anpassung

Leitmotiv der nächsten Gesellschaft

Wie einst Nietzsche die Werte seiner Zeit als im Niedergang begriffen beurteilte, so kommt auch Philipp Staab in seinem Buch zu dem Urteil, dass wir unsere Lebensweise so nicht weiter fortsetzen können. Führt der Weg aus der Postmoderne in die Zukunft von „Selbstentfaltung zu Selbsterhaltung"? So könnte der rote Faden von Staabs gesellschaftstheoretischer Erkundung gefasst werden.

Der Titel des Buches tritt inhaltsoffen an die Leser*innen heran. Es geht um Anpassung, jedoch in welcher Art und Weise, Anpassung woran oder wofür bleibt offen, auch bewertet wird sie hier noch nicht. Lediglich der Untertitel lässt erahnen, dass es politisch eventuell auch ungemütlich werden könnte. Dieser weist Anpassung nämlich als „Leitmotiv der nächsten Generation" aus. Staab wagt also einen theoretischen Vorstoß zu den Konturen und Werten der Zukunft.

Gleich im ersten Satz werden die „Semantik des Fortschritts, der Individualisierung, der Emanzipation und der Demokratisierung" und damit die zentralen Werte der Moderne kritisiert. Ob sie als Bezugsgrößen zur Analyse der jetzigen und kommenden Gesellschaft genügen, sei fragwürdig. Staab wagt demgegenüber in seinem Buch den Versuch, die (kommende) Gesellschaft aus einem „defensiven Weltverhältnis" anhand der Leitmotive Selbsterhaltung und Anpassung zu entwerfen. Dazu stellt er zunächst den Anpassungsbegriff in seiner Rezeptionsgeschichte dar und weist ihn als typischen negativen Bezugsbegriff von Freiheits- und Emanzipationsapologet*innen aus.

Unsere Selbsterhaltung ist bedroht, da ist sich Staab sicher, lediglich das Ausmaß ist beeinflussbar. Vor diesem Hintergrund betrachtet er die Frage der individuellen und kollektiven Lebensführung. Hierbei legt er schlüssig dar, wie kapitalistische Zwänge, wie auch das Streben nach immer mehr Freiheit und Emanzipation die Grundlage für ebenjenes Streben gefährden. Es ist nur möglich, wenn grundlegende Selbsterhaltungsfragen geklärt sind. Jedoch wirft das kollektive Emanzipations- und Freiheitsbestreben beständig neue Selbsterhaltungsfragen auf oder radikalisiert sie. Demgegenüber entwirft Staab die adaptive Lebensführung als Lösung. Durch partielle Emanzipations- und Freiheitsverzichte verschwinden auch Verantwortlichkeiten und der Druck, diesen zu genügen. Weiterführend würden genau jene Verzichte grundlegende Freiheiten und Emanzipationsmöglichkeiten aufrechterhalten.

Gesellschaftlich wäre die Praxis der „adaptiven Lebensführung" noch um die der „reflexiven Resilienz" zu ergänzen, die Wolfgang Bonß beschrieben hat. Er meint damit sich in Antizipation kommender Ereignisse auf diese vorzubereiten, sodass man bezüglich kommender Katastrophen besser gewappnet ist. Als Praxisform reflexiver Resilienz nennt Staab „Mitigation", also Abmilderung. Gemeint sind Maßnahmen, die das Ausmaß von Naturkatastrophen verringern, wie z.B. Dämme bauen, um das destruktive Potential von Starkregenereignissen zu schmälern, oder die Lohnsteuersätze für Besserverdienende anzuheben, um dem Auseinanderdriften von arm und reich zu entgegenzuarbeiten. Mitigation ermögliche demnach Zukunft, aber eben nicht nach „der Logik des Fortschritts", sondern dadurch, dass man Gegenwart gewinnt, weil Schadensausmaße verringert werden. Mitigation und Resilienz entsprechen laut Staab einem „post-progressiven Zeitverhältnis", dessen Handlungsmöglichkeiten sich aus einer adäquaten „Vulnerabilitätswahrnehmung" ergeben.
Die Verlängerung von Gegenwart spielt auch bei der Untersuchung der „Avantgarden der Anpassung" eine Rolle. Als solche Vorreiter bezeichnet Staab die sozialistische Bewegung mit ihrer Sozialkritik, die Künstlerkritik der 68er-Bwegegung und die ökologische Kritik der der „neuen Klimabewegung". Distinktionsmerkmal der neuen Klimabewegung gegenüber den anderen beiden sozialen Bewegungen sei, dass sie „erwartungsbasiert" ist, also die Zukunft antizipiert und versuche die Gegenwart möglichst zu verlängern. Die anderen beiden Bewegungen seien demgegenüber erfahrungsbasiert und hingen dem Fortschrittsideal an, das die neue Klimabewegung ablehne.

Staab hat in „Anpassung" nicht nur Theorie verarbeitet. Um seine Überlegungen mit Fakten zu unterfüttern hat er die „Pandemie als Adaptionskrise" untersucht. Für ihn war z.B. der erste Lockdown eine „bedingungslose [...] Orientierung am Schutz von Leben", was nichts anderes sei als eine zwar reaktive aber radikale Adaptionsentscheidung zugunsten von Selbsterhaltung und gegen Freiheitsrechte. Er beschreibt die Pandemie als ein „gigantisches Experiment der adaptiven Neusortierung", bei dem die Infrastrukturen die Adaptionsbemühungen absichern. Interviewt wurden deshalb Bechäftigte der sog. kritischen Infrastruktur, darunter Angehörige „aus den Feldern Gesundheit, Bildung/Erziehung, Sicherheit sowie materielle Infrastrukturen". Aus den Aussagen dieser „Praktiker:innen der Anpassung" lassen sich vier Punkte ihrer „Vorstellung der guten Gesellschaft" ableiten: 1. eine „nivellierte Sozialstruktur" mit „hohen kulturellen Binnendifferenzen"; 2. eine „funktionierende Verantwortungs- und Kompetenzhierarchien" mit „klarer Führung"; 3. eine „vertikale[...] Autorität" mit Durchsetzungscharakter, vor allem ggü. den „kulturprägenden Egoismen der Einzelnen" und 4. mehr „forderungsfreie Zeit" und somit „Zeitautonomie".
Staab erkennt darin den Wunsch, den er auch bei der ökologischen Kritik findet: den Wunsch nach technokratischen, und damit entpolitisierten Lösungen.

Diese Lösungen füllen schließlich die letzten Seiten seines Buches. Dort wird erst die Regierungsunfähigkeit von demokratisch Regierenden mit Schumpeter dargelegt, um dann noch eines von Staabs Hauptthemen, die Digitalisierung, zu bedienen: die Digitalisierung und deren Möglichkeiten. Besprochen werden mögliche Regierungsweisen, wie z.B. die „synthetische Technokratie", die im Computerspiel „Civilisations" durch soziale Medien unterstützt Regierung ermöglicht, das nie umgesetzte, chilenische Projekt Cybersyn, mit dem man die Planwirtschaft revolutionieren wollte, oder Regierung via einer „digitalen Superintelligenz als Teil des Erdsystems", wie es der Begründer der Gaia-Hypothese Lovelock sich vorstellte. Insgesamt ergibt sich ein schwer zu realisierendes Bild, da die Verbindung von „[w]issenschaftlicher Rationalität und eine de facto kapitalistischen Interessen verpflichtete Politik" sich „diametral gegenüber" stehen. Das Einkehren von Rationalität und die Abkehr vom Kapitalismus bleibt also weiterhin ein vage zu erhoffendes Zukunftsprojekt.

Staab trifft mit seinem theoretischen Vorstoß den Zeitgeist. Die Alltagserfahrung und die Medienrezeption lassen vermuten, dass Staabs ungemütliches, gleichzeitig aber sehr logisch argumentiertes Buch den aktuellen Diskurs und vielleicht auch die nächste Gesellschaft
beeinflussen werden.

Marvin Derst