Francesca Melandri
Alle, außer mir
Ein heiterer Sommerschmöker ist Francesca Melandris Roman Alle außer mir nicht. Eher ein Buch für, mit Kafka gesprochen, „das gefrorene Meer in uns". Aber es ist so spannend, dramaturgisch geschickt und sprachlich dicht geschrieben, dass sich die Lektüre trotz der teils heftigen Geschichte unbedingt lohnt.
Sie beginnt im sommerlichen Rom auf dem Esquilin, wo die vierzigjährige Lehrerin Ilaria Profeti bei ihrer Heimkehr einen dunkelhäutigen jungen Mann vor ihrer Wohnungstür antrifft, der sich als Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti vorstellt. Sie wittert einen Betrüger, doch als der Fremde ihr seinen Ausweis zeigt, auf dem der nämliche Name bezeugt ist, wird sie nachdenklich. Zusammen mit ihrem Halbbruder Attilio beginnt sie, die Identität des Unbekannten zu ergründen.
Ihre Spurensuche führt sie weit zurück: in den Krieg des faschistischen Königreichs Italien gegen das Kaiserreich Abessinien 1935/36 über die italienischen Konzentrationslager in Libyen bis zum kolonialen Rassismus in der Flüchtlingspolitik des heutigen Italiens.
Melandri erzählt sinnlich, detailreich und dicht an ihren Figuren. Zugleich durchzieht den Roman wie ein basso continuo eine präzise, kenntnisreiche Analyse der historischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge und die Kritik der Autorin daran. Dabei schont sie ihre Leser*innen nicht. Vergegenwärtigt wird im wahrsten Sinne des Wortes, mit welcher Brutalität die faschistischen Truppen die rassistisch entwerteten Gegner – mit ausdrücklicher Erlaubnis der Kolonialherren, „grenzenlose Gewalt auszuüben" –, quälten und ermordeten. Die Genauigkeit, mit der diese Brutalität, die Verrohung, die skrupellosen Lügen der Eroberer dargestellt werden, zeugen von einer beeindruckenden Recherche.
Am Ende kehren wir zurück nach Rom. Zurück zu der in ihrer Fülle fesselnden, sehr italienischen Familiengeschichte. Wir verstehen, warum dem Fremden der Ausweis und seinen Namen zu nennen so wichtig waren. Ilarias kindlich geliebter Vater ist entzaubert. Der pater familias und vermeintliche Held wird als rücksichtsloser, jämmerlicher Feigling entlarvt. Ein böses Erwachsen. Ein Roman, der durch seine souveräne erzählerische Kraft und den Mut zur Wahrheit zur eindringlichen Lektüre wird.
Gabriele Michel, Amica e.V.
AMICA ist eine Frauenrechtsorganisation, die sich für Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten engagiert. AMICA entstand 1993 aus einer Freiburger Initiative als Reaktion auf die sexualisierte Kriegsgewalt im Bosnienkrieg und ist heute eine international tätige Nichtregierungsorganisation.

Aus dem Italienischen von Esther Hansen.
Btb , Taschenbuch , 608 Seiten
12.- €
978-3-442-71686-9
11.05.2020
Alle, außer mir
Ein heiterer Sommerschmöker ist Francesca Melandris Roman Alle außer mir nicht. Eher ein Buch für, mit Kafka gesprochen, „das gefrorene Meer in uns". Aber es ist so spannend, dramaturgisch geschickt und sprachlich dicht geschrieben, dass sich die Lektüre trotz der teils heftigen Geschichte unbedingt lohnt.
Sie beginnt im sommerlichen Rom auf dem Esquilin, wo die vierzigjährige Lehrerin Ilaria Profeti bei ihrer Heimkehr einen dunkelhäutigen jungen Mann vor ihrer Wohnungstür antrifft, der sich als Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti vorstellt. Sie wittert einen Betrüger, doch als der Fremde ihr seinen Ausweis zeigt, auf dem der nämliche Name bezeugt ist, wird sie nachdenklich. Zusammen mit ihrem Halbbruder Attilio beginnt sie, die Identität des Unbekannten zu ergründen.
Ihre Spurensuche führt sie weit zurück: in den Krieg des faschistischen Königreichs Italien gegen das Kaiserreich Abessinien 1935/36 über die italienischen Konzentrationslager in Libyen bis zum kolonialen Rassismus in der Flüchtlingspolitik des heutigen Italiens.
Melandri erzählt sinnlich, detailreich und dicht an ihren Figuren. Zugleich durchzieht den Roman wie ein basso continuo eine präzise, kenntnisreiche Analyse der historischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge und die Kritik der Autorin daran. Dabei schont sie ihre Leser*innen nicht. Vergegenwärtigt wird im wahrsten Sinne des Wortes, mit welcher Brutalität die faschistischen Truppen die rassistisch entwerteten Gegner – mit ausdrücklicher Erlaubnis der Kolonialherren, „grenzenlose Gewalt auszuüben" –, quälten und ermordeten. Die Genauigkeit, mit der diese Brutalität, die Verrohung, die skrupellosen Lügen der Eroberer dargestellt werden, zeugen von einer beeindruckenden Recherche.
Am Ende kehren wir zurück nach Rom. Zurück zu der in ihrer Fülle fesselnden, sehr italienischen Familiengeschichte. Wir verstehen, warum dem Fremden der Ausweis und seinen Namen zu nennen so wichtig waren. Ilarias kindlich geliebter Vater ist entzaubert. Der pater familias und vermeintliche Held wird als rücksichtsloser, jämmerlicher Feigling entlarvt. Ein böses Erwachsen. Ein Roman, der durch seine souveräne erzählerische Kraft und den Mut zur Wahrheit zur eindringlichen Lektüre wird.
Gabriele Michel, Amica e.V.
AMICA ist eine Frauenrechtsorganisation, die sich für Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten engagiert. AMICA entstand 1993 aus einer Freiburger Initiative als Reaktion auf die sexualisierte Kriegsgewalt im Bosnienkrieg und ist heute eine international tätige Nichtregierungsorganisation.