Tim Krabbé - Das Rennen
Bevor Tim Krabbé in den 70er Jahren mehrere hundert Amateur-Radrennen bestritt, war er Schachmeister. Und die Talente und Fähigkeiten, die ihn zu einem guten Schachspieler gemacht haben, machen ihn auch zu einem guten Rennfahrer. Er analysiert, berechnet, versetzt sich in seine Konkurrenten hinein und weiß, wann er Chancen ergreifen kann. Das Ziel ist klar: Das Rennen soll gewonnen werden, darauf hat er hingearbeitet. Dass die wenigen Stunden der Mont Aigoual Rundfahrt von 1977, die das Buch auf 160 Seiten umreißt, trotzdem so kurzweilig zu lesen sind, liegt an dem wunderbar trockenen Humor und der Selbstironie, mit der Krabbé die ganze Absurdität des Radrennsports und des titelgebenden Rennens ausleuchtet. Ganz nebenbei gibt es einiges zu erfahren: Anekdoten aus dem Profi-Peloton der 60er und 70er Jahre, die ganz persönliche Radsportgeschichte des Autors und nicht zuletzt die Schönheit der kleinen Sträßchen durch die Cevennen.
Matthias Raus, Zündstoff und Samstagskunde
Benjamin Myers - Offene See
Ein junger Mann verlässt kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs sein Zuhause – ein Kohledorf in England – um vor seinem nahenden Start ins Berufsleben sein Heimatland kennenzulernen. Die Sehnsucht nach dem Meer treibt ihn an.
Kurz vor seinem Ziel lernt er eine ältere Frau kennen. Aus einer Tasse Tee in ihrem Cottage entwickelt sich eine Freundschaft zwischen den beiden ungleichen Menschen.
Der junge Robert lernt fernab seiner Heimat ein neues Leben kennen. Ein Leben, in dem Freundschaft, Leidenschaft, Kunst, aber auch Schmerz erstrebenswerter sind als Wohlanständigkeit und Pflichterfüllung.
Mit wunderschönen Naturbeschreibungen schafft es der Roman, den Lesenden mit auf den Weg des Reisenden zu nehmen, einen Weg des Erwachsenwerdens und der Selbstfindung.
Ein wunderbares Buch für alle, die eine Sehnsucht nach Natur verspüren und tiefgründige Gespräche und Poesie lieben.
Johanna Rank, Samstagskund*in
Torrey Peters - Detransition Baby
Content Note: Das Buch beinhaltet transmisogyne Gewalt, Selbstmord, Fehlgeburt, Homophobie, häusliche Gewalt, Outing am Arbeitsplatz, Thematisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Reese erhält einen Anruf von ihrem Ex-Partner Ames. Dieser konfrontiert sie mit der Frage, ein Kind gemeinsam mit ihm und seiner neuen Gefährtin Katrina großzuziehen. Diese ist unvorhergesehen schwanger geworden, wodurch Ames vor der Entscheidung steht, ob er eine Vaterrolle übernehmen kann. Für Ames besteht diese Überlegung nur unter der Bedingung, dass Reese in das Elternschaftsmodell aufgenommen wird. Denn Ames erhält Vertrauen und Sicherheit dadurch, dass er von Reese gesehen wird, wie er gesehen werden will, unabhängig seiner physischen Erscheinung und vor allem, nicht als Vater. Ames ist eine Frau, wenngleich er wieder als Mann lebt. Trotz seiner Detransition wird offensichtlich: Sein Unbehagen in der Genderidentität ist und bleibt präsent. Das Absetzen der Hormone bedeutet für ihn weder ein Bereuen, noch das Ablegen seiner Transidentität.
Luc Kästner, Samstagskunde
Lin Hierse - Wovon wir träumen
Warum verlässt eine junge Frau Ende der 1970er Jahre China, um nach Deutschland auszuwandern – und um dort zu bleiben? Welche Motive treiben sie an, und welche Träume nimmt sie mit, die sie dann verwirklichen will?
Die 1990 in Braunschweig geborene Journalistin Lin Hierse versucht in diesem Buch, sich ihrer Mutter anzunähern – die Wege suchte und fand, das maoistische China hinter sich zu lassen, um in der BRD zu arbeiten, und dort Mutter wurde. Was bedeutet dieses Leben der Mutter für die Tochter, wie wirkt es sich auf deren Leben aus?
Lin Hierse hat einen Roman vorgelegt, nicht nur reich an Facetten und Einblicken in einen hierzulande eher unbekannten „Migrationshintergrund", der Lesende mitnimmt auf die Suche nach den Träumen der Eltern und der die nie endgültig zu beantwortende Frage stellt, inwieweit die eigenen Träume davon geprägt sind.
Ein schönes Buch.
Christoph Seidler, das „Lesewütige Kaffeekränzchen" bei Radio Dreyeckland und Samstagskunde